Bibliothek (1er Solidarität No. 1.

Nach vierzig Jahren.

(>S September IS04 ..'S September 11)04.)

EIN HISTORISCHES GEDENKBLATT

zur vierzigjährigen Gründung der Internationalen Arbeiter Association

VON

PIERRE RAMUS.

) y Proletarier, vereinigt Kuck ! Vereinig

{/ Ruckt wenn Ihr da» Heiz )ia1»t9 Kneh von all

Kurcm gemeinsamen Klond zu befreien! Ermutigt Euch einauder zw einem so edelu und wichtigen Unternehmen. •• Vereint wird es den Volkern gelingen... Alk Streitigkeiten und Feindseligkeiten gegen einander müssen die Völker uudcixlrücken, allen Unwillen gegen die gemeinsamen Feinde, gegen die übermütigen, uberstolzen... Menschen wenden, die sie elend machen und ihnen die besten Früchte ihrer Arbeiten rauben, "

Jean Mk.slikk (1664—1733)

Herausgegeben von dem Communistischen Arbeiter Bildungs Verein

1 9 O S

4t Euston Buildings, Euston Street, London, N. W.

VORWORT -.>— . -

Die Veröffentlichung dieser Skizze — die zuerst m dem 'Berliner anarchistischen Wochenblatt „Der freie Arbeiter" (I, N. 30, 40) erschien — ist indirekt durch einen Gegner veranlasst worden. Dieser Tage las ich das unlängst erschienene Buch „Die Internationale" aus der Feder des deutschen Sozialdemokraten Gustav Jaeck, und daraufhin wurde die Publikation des vorliegenden Schriftchens beschlossen.

Wollte ich Alles sagen, was ich bei der Lektüre des obigen Pasquills empfand, es würde sich leicht zu einer Antikritik in Buchform entwickeln. Ich begnüge mich damit, zu konstatieren, -dass der Verfasser dos genannten Werkes, ein Piet.ro Aretino unserer Zeit im schlechtesten Sinne dieses Namens, kein Geschichtswerk verfasst, vielmehr sich damit abgefunden hat, dio sämtlichen perfiden, arroganten Entstellungen und Gemeinheiten der Marxisten wider die damalige freiheitlich-sozialistische Richtung innerhalb der alten Internationale dem leider allzu gläubigen deutschen Proletariat wieder aufzutischen. Seine Schritt ist zum gross teil Theil eine mit zahlreichen Paraphrasen ausgeschmückte Abschrift der Marx'schen Verleumdungen in der berüchtigten Broschüre „L'Alliance de la Democratie So Cialis to", denen der deutsche Leser umso wehrloser gegenübersteht, als das Werk der Bakunin-Guillaiune-Fraktion „Memoire presento pir la Föderation Jurassienne" bisher noch keine vollständige •deutsche Uebersetzung erfahren hat.

Mit welch raffinirter Gemeinheit Herr Jaeck die grossartige Figur Michael Bakunin's anschwärzt, verzerrt, unterdrückt» überhaupt verleumdet, kennzeichnet ihn, nun,, da durch D r. Max Nettlau die Wahrhaft über Bakunin allen Kreizen, zugänglich gemacht wurde, selbst am besten und hinreichend.— Jaeck's Buch bildet ein Monument für die sozialdemokratischliterarische Methode der Niedertracht und Leichenschändung gegenüber fast unerreichbar edlen historischen Persönlichkeiten

des Anarchismus.---

Sonstiger Zweck und Aufgabe des vorliegenden Schriftchens sind leicht ersichtlich: es soll oinen flüchtigen, denkbar knappen 1 "eberblick, über die hauptsächlichsten Tendenzen der alten „Internationale" gestatten, diese für Gegenwart und nächste Zukunft verwertnen; es soll eine tüchtige Schlagwaffe sein und die Agitation des Tages nachdrücklich unterstützen. Wenn es in diesem Sinne aufklärend, zu gründlicherem Studium anregend wirkt und den wichtigsten taktischen Fragen der Gegenwart — Generalstreik und Antimilitarismus — zur Hilfo gereicht, dann hat dieses Pamphlet seinen Zweck erfüllt, und diese Erfüllung wird mir höchste Genugthuung sein.

Mein lebhafter Dank gebührt dem Communistischen Arbeiter Bildungs Verein, der mir die Herausgabe von „Nach vierzig Jahren" ermöglichte.

P. R

London, Mitte April 1005.

„Und neues lieben blüh' aus den Ruinen".

In dem internationalen Befreiungskämpfe des Proletariats giebt es jeden Tag so viele Ereignisse von Bedeutung, dass man gut daran thut, die alte Kalenderweisheit, die Wiederkehr gewisser Tage besonders zu feiern, fahren zu lassen. Nicht nur, dass ein Opfer das andere in den Schatten stellt, welches die Arbeiter sowohl individuell als auch •Kollektiv am Altar der Freiheit darbringen, nicht nur, dass die Kämpfe mit jedem Tage grösser, ausgedehnter, von weittragendster Bedeutung werden, sich öfter wiederholen als ehedem, dass also die Fülle der allen sichtbaren Geschehnisse fast erdrückend wird und manchmal die •Uebersicht beinahe unmöglich macht — so arbeiten auch so viele Faktoren und menschliche Kräfte in der Stille g£gen das bestehende System, unterminieren es so rastlos, dabei aber unauffällig, dass man wirklich oft in Versuchung gerät, sich zu fragen, ob man das Andenken an vergangene, besonders ereignisvolle Geschehnisse und Tage in •der Arbeiterbewegung überhaupt feierlich ins Gedächtnis zurückrufen soll! Denn das, was der Kampf der Gegenwart erfordert, ist ohnedies so aufreihend, dabei so wichtig, dass es wirklich eine Frage ist, ob es der Zeit und Mühe wert, historische Gedenksteine zu errichten, noch "während wir kämpfen, historische Umschau zu halten, während die aktuellen, beständig wechselnden Eindiücke, die wir im grossen Menschheitskampf unserer Zeit empfangen, auch gewissermassen geeignet sind, unser Urteil beständig zu verändern, da erst eine spätere Zeit des Friedens und der freudvollen Freiheitsruhe imstande sein •wird, der Vergangenheit historisch gerecht zu werden.

Aber der 28, September des Jahres 1904erforderte ganz entschieden, ungeachtet aller Bedenklichkeiten und Rücksichten, eine geschichtliche Würdigung unsererseits, denn dieser Tag ist die Quelle, der so recht eigentlich die moderne Arbeiterbewegung in ihren zwei radikalsten Strömungen — Anarchismus und Sozialdemokratie — entsprang; Ströme, die breiter und mächtiger anschwellend wurden von Tag zu Tag, die miteinander ringen um die Vorherrschaft in der ideellen Führerschaft des Volkes und die, jeder für sich, nach bestimmten grossen Mündungen streben. Am 28. September wurden es vierzig Jahre, dass in London, auf einem Meeting in St. Martins Hall, die Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation, der alten Internationalen, beschlossen wurde.

Und dieser Tag ist, wie gesagt, sehr wichtig. Er darf nicht ungenützt vorübergehen ohne uns zu gestatten, seine Bedeutungfestzustellen,, damit wir ei kennen lernen, warum er so grosse Wichtigkeit besitzt, damit wir sehen können, inwiefern sich die Hoffnungen, die an ihn resp. an das Ereignis dieses Tages, geknüpft wurden, sich thatsäch-lich verwirklichten, inwiefern die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung den Prinzipien der alten Internationale treu blieb, und in welcher Hinsicht sie sich von diesen entfernte.

Für anarchistische Arbeiter ist die „Internationale" nicht das, was sie für den sozialdemokratisch Gedrillten ist, der von ihr nur soviel weiss, dass die Namen seiner Vorkämpfer Marx und Engels eng mit ihr verbunden seien. Wir wissen, dass die Legende, Marx habe die „Internationale" gegründet und Baku n in, der Böse, hätte sie, just um Marx ein Schnippchen zu schlagen, zerstört, eben nur Legende, an der auch nicht der Schatten irgend einer Wahrheit ist. Schon lange vor Marx und Engels bestand der Gedanke einer internationalen Verbindung aller Proletarier und das Zitat aus Mes-liers bekanntem Buch, das wir diesem Essay vorausschicken, zeigt am besten, wie lange vor Jenen diese Idee der Internationalität im Geiste sozialistischer Vorkämpfer bereits wirkte. Unsere Internationale erhält ihre Bedeutung dadurch, dass sie zum ersten Mal< in Praxis umwandelte, was seit Anacharsis Cloot — vor wie nach — doch eben meistens Theorie und schwärmerische Sehnsucht gewesen. Und an der Begründung der „Internationale" haben Einzelne eigentlich überhaupt kein Verdienst. Wenn man hier von Verdienst sprechen will, so gehört dieses wieder einmal den unzahligen Namenlosen, dem Volke, den gewerkschaftlich organisirten Proletariern, die, angeregt durch den Hauch der damaligen Zeit, den Anstoss zur Fundierung dieser historischen Organisation gaben. Denn am meisten wirkte die Zeit mit, die dem Gedanken des Internationalismus, der internationalen Volksverbrüderung, beständig neue Nahrung zuführte. Kurz vorher fand die Londoner Weltausstellung-siatt (186z), auf welcher französische, englische, deutsche u« d bei sehe Arbeiter in direkte Beziehungen zu einander traten. Ein Jahr später kam der Polenaufstand zum Ausbruch, anlässlich welchem die Völker Frankreichs und Englands sich hauptsächlich an den Petitionen und Demonstrationen gegen die Urbarbarei des offiziellen Russlands beteiligten. Als immer dringender notwendig wurde eine intime Verbindung der Proletarier der verschiedenen Nationen erkannt und eine zu diesem Zwecke in der oben genannten Halle einberufene Meeting ergab endlich auch die Gründung der „Inier-nationale".

Das Giosse, Erhabene und wirklich Unvergängliche dieser Gründung besteht in der Verschmelzung der Geister aller sozialistischen Schulen zu gemeinsamer Kampfesthätigkeit wider die herrschende Ausbeuterklasse. Drei verschiedene Schulen waren besonders hervorstechend in i Ii r vertreten : I. Der autoritäre Kommunis m u s von Cabet, Leroux, Considerant, zu welchen wir auch Marx nennen dürfen; II. der Kollektivismus eines Pecqueur und Vi dal, welch ersterer schon im Jahre 1850 dieselben Ideen hatte, welche die Sozialdemokratie heute als „wissenschaftlichen Sozialismus" erklärt und der Meinung war, dass die französische Nationalversammlung, wenn sie nur wolle, den Kollektivismus durch Gesetzeserlass einführen könne; III. und natürlich am einflußreichsten waren die Ideen des Mu t u a 1 i s m u s, wie Proudhon sie formulierte, Austausch der produzierten Waren unter den verschiedenen Arbeitergruppen durch die sogenannten, von einer Volksbank verausgabten Arbeitscheks. Im Allgemeinen fanden die Ideen Sf. Simons, Fourier, Robert Owen, wie wir oben gesehen, günstige Aufnahme in dem Verein und trotz verschiedenartiger Tendenzen einigte man sich, angeregt durch die während der ganzen Existenz der Interna-tionalen immer am thatkräftigsten die Initiative ergreifenden Pariser Arbeiter auf ein gemeinsames ökonomisches Programm, da* in unzweideutiger Weise aussprach, was «in jeder Einzelne, ungeachtet seiner sonstigen theoretischen Auffassung, fühlte : Wir nehmen, was wir durch den direkten, ökonomischen Kampf gewinnen köanen, als Abschlagszahlung; aber das Ziel unseres Kampfes, unserer unermüdlichen Bestrebungen und unserer Organisationsthä-tigkeit ist die Befreiung der Arbeiterklasse, von der kapitalistischen Produktionsausbeutung S Diese Einheit im Schlagen wider den gemeinsamen Feind, diese geeinte Kampfarmee, in der die besondere Ueberzcugung des Individuums vollständigste Autonomie genoss solange es von Hass gegen das bestehende System und dessen

Schäden erfüllt war, ist das glänzendste Beispiel, wie leicht es möglich wäre, alle Schichten und Kategorien der Arbeiterklasse zu vereinigen, wenn Politiker und sonstige Ehrgeizlinge nicht jeden echten, wirklichen Kampf verhinderten. Und das Unvergängliche der Internationale, deren Inauguraladresse und Statuten der damals noch nicht politisch infizirte Marx ausarbeitete, wird immer darin bestehen, diese Einheit all dessen, das freiheitlich fühlt und nach dem (»lück der Menschheit drängt, wenigstens vorübergehend verwirklicht zu haben.

Es genügt, wenn wir einige Zitate aus den Generalstatuten folgen lassen ; sie werden klarer als alles andere beweisen, warum es möglich war, eii e Einigung aller rebellisch Fühlenden herbeizuführen. In Erwiigung,

...„dass die ökonomische Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, d. h. der Lebensquellen, der Knechtschaft in allen Formen zu Grunde liegt — dem gesellschaftlichen Elend, der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit;

dass die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse d.iher der grosse Endzweck ist, dein jede politische Belegung als Mittel*) unterzuordnen ist."'

'") Ks ist notwendig, bei dieser Gelegenheit Verwahrung wider so manche heim* türkischen Verleumdungen seitens der Sozialdemokratie einzulegen. Wollte man diesen Leutchen glauben, so sind die Anarchisten überhaupt gegen jede Politik — dabei ist die Anarchie selbst ein eminent politische« Prinzip. JL)«r Unterschied zwischen sozialdemokratischer und anarchistischer Politik reduziert sich zu folgenden, wahrlich sehr verschiedenen Auflassungen : Für den Sozialdemokraten ist das Stimmen und die Erwählung von Abgeordneten das A und ü d< r Politik; für den Anarchisten ist die Politik diejenige ausserp all am entarische He-tatigung des Proletariats, die durch die ökonomische Kraft des Streiks, Boykotts etc. etc. politische Forderungen — Verkürzung der Arbeitszeit, Steigerung de» Lohnes, Besserung der "Wob 11 ungs Verhältnisse etc. — erzwing t. Für s o 1 c h c Politik tritt der Anarchist ein ; alles andere ist ihm nichts als Stimmenfang, Schacherei und Kompromis und bleibt, dies das Schlimmste, vollständig wirkungslos, wjis die Besserung der proletarischen Lebenshaltung anbelangt. Kurz, eine jede wahrhaft revolutionäre IMhätigung des Individuums oder von Gruppen, die außerparlamentarisch allgemein gesellschaftliche Ziele zu erreichen wi'inscht, ist Politik für den Anarchist. —

Auf noch etwas muss der Leser hier aufmerksam gemacht werden, Ursprünglich, im französischen Originaltext obiger Resolution, die vom Genfer Kongress der „I." angenommen wurde, standen die Worte ..als Mittel" noch nicht ; erst in die englische Fassung, die der Generalrath 1867 herausgab, wurden

Diese Forderungen sind einfach, logisch, klar. Sie beschränken •die Zugehörigkeit zur „Internationalen" nicht etwa auf ein prinzipienzünftiges Programm, dem jeder Einzelne sich unterordnen muss, vielmehr auf seine aktive Mithilfe, auf seine Arbeit und Thä-tigkeit für allgemein notwendige Forderungen der ökonomischen Solidarität, und lehren auch gleichzeitig die Anwendung derjenigen Waffe, die für das Proletariat am zuverlässigsten ist: s e i n e eigene Kraft, die Wucht seiner eigenen direkten Macht.

So war es auch nur natürlich, dass die Internationale rasch wuchs; wohl nicht in Deutschland, auch nur nominell in England; aber rapide in Frankreich, Spanien, Italien, Holland, Belgien, der romanischen Schweiz. Das Praktische dieses rein ökonomischen Kampfes, durch dessen Waffentiichtigkeit sich sehr wohl jede politische Forderung erzielen liess, fesselte natürlich die Aufmerksamkeit des intelligentesten Elementes im internationalen Proletariat, und dies war das Geheimnis des siegreichen Erfolges der „Internationalen'4. Stellen wir also dies fest: Die „Internationale4 war eine international o r g a n i s i er t e Gewerkschaft, die als oberste Aufgabe betrachtete, die ökonomischen Kämpfe des Proletariats e nes jeden Landes auf das Tatkräftigste und Energischste zu unterstützen.

Jedes politische Tändeln im Sinne des Parlamentarismus lag ihr anlänglich vollständig fern, und niemals hätte sie ihren relativ sehr bedeutenden, erzieherisch absolut ausgezeichneten Einlluss auf die eigene. Mitglieder gegenüber der weiten Oeffentlichkeit gewinnen könm n, wäre dies nicht der Fall gewesen; niemals hätte sie.so viele

sie liiwinbngsievt. Diese redaktionelle Fälschung ist vornehmlich durch Marx verübt worden und ihr nicht gleich ersichtlicher Zweck war, diejenigen, die sich, wie die bakunistischen Fraktionen, weigerten, sich mit national-parlamentarischer Politik zu beschäftigen, als Verletze»- der Statuten aus der „I." nus.sehHessen zu können. Dass nur dies die Absicht gewesen, ist klar, denn sonst sind die Wörtchen „als Mittel" zu unbedeutend, um sich für ihre Einfügung ernstlich zu bemühen, da sie so wie so dev ökonomischen Bewegung, der wirtschaftlichen Befreiung, als primäres, wichtigstes Ziel hn sozialen Kampf ihr Vorrecht nicht nehmen. Aber bei Marx und Konsorten handelte es sich darum, eine „legale" Waffe gegen •die Bakunisten zu gewinnen, und da wollte sich Alarx eben der kleinlichen Methode der Wortklauberei bedienen, um im Stande zu sein, gleich einein Staatsanwalt, auf Grund von Kautschukparagraphen Anklage zu erheben und seinen Widersachern eine Niederlage zu bereiten.

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Strömungen und Tendenzen unter ihrem Banner vereinigen können, hätte sie von vornherein irgend ein Parteidogma auf ihre Fahne geschrieben. Den besten Beweis, dass dies wahr und richtig, liefert gewiss die Tatsache, dass, als die politische Tendenz und die parlamentarische Kinschwörung des Proletariats beginnen sollte und man die Hauptgegner derselben entfernt hatte, die alte Internationale praktisch aufhörte, zu bestehen, und nur der bakunistische Flügel, viel geschmäht weil wenig verstanden, thatsächlich noch weiter verblieb.

Bevor wir zu dieser Periode eilen, ist es notwendig und interessant, den Kongress zu Brüssel (r868), den die Internationale abhielt, etwas naher zu betrachten, da derselbe einen Punkt auf der Tagesordnung hatte und behandelte, der eben jetzt, da wir einer Befreiung des Sozialismus aus den Händen der Sozialdemokratie entgegengehen, sehr aktuelle Bedeutung eihält. Es ist dies der folgende Punkt: „Wie h »t. sich die Albeiterklasse im Falle eines zwischen zwei oder mehr Grossmächten ausgebrochenen Krieges und nam ntlich gegen dessen Urheber zu verhalten?" Wir sehe , diss hier beide Kriegs-arten, der agressive als auch der defensive Krieg, ins Auge gefasst wurden. Nun haben wir in der letzten Zeit gerade über diese Angelegenheit soviele orakelhafte Ansichten seitens der deutschen Sozialdemokratie, will sagen durch das Mundstück derselben,. Herrn August Bebel, empfangen, die so eigentümlich — um kein schärferes Wort zu gebrauchen — waren, dass es sich verlohnt, dieselben einmal genauer im Lichte jener altrevolutionären Tradition zu prüfen, welche den belebenden, schöpfet ischen Geist der Internationale bildete. Auch hat in Holland, einberufen von unserem unermüdlichen Genossen Domcia Nicuwenhuis, ein international beschickter antimilitaristischer Kongress stattgefunden, Oer sich getreu sein .11 Grundsätzen, scharf und unzweideutig gegen den Militarismus als System-einrichtung erklärte und dem Proletariat die Möglichkeit und Mittel wies, wie es diesen Erzfeind jedes freiheitlichen Ideals überwinden könne.

Welche Bewegung steht nun der Ansicht der alten Internationale näher, die sozialdemokratishe Taktik — „wir werden die Gewehre schultern, wenn man ,uns' angreift," so oder ähnlich lautete es doch? — oder die von dem antimilitaristischen Kongress vorgeschlagene Taktik ?

Nach einer längeren theoretischen Darlegung der Ungerechtigkeit, des kolossalen Verbrechens und der Schmach eines jeden Krieges

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gelangte der Brüsseler Kongress 1868 zu folgendem, seiner Länge wegen von mir gekürzten Resultat:

,.ln Erwägung, dass a'so die Völker die Zahl der Kriege vermindern können;

das«? es dazu ein wirksames, gesetzmässiges und sofort durchführbares Mittel giebt;

dass die Gesellschaft nicht zu existie:en vermöchte, wenn die Produktion eine Z^it lang stüle steht :

dass es also genügt, um die Unternehmungen eines persönlichen und despotischen Regiments unmöglich zu machen, wenn die arbeitende Bevölkerung die Arbeit einstellt;

erhebt der Kongress mit aller ihm zustehenden Energie einen Prorest gegen den Krieg. Er ersucht alle Sektionen der Assoziation, sowie alle Arbeitergesellschaften und Verbindungen, welcher Art sie auch seien, in ihren Ländern mit aller Tatkraft darauf hinzuarbeiten, den Krieg zwischen Volk und Volk zu hindern, der nur als ein Bürgerkrieg, nur als ein Kampf zwischen Brüdern und Genossen betrachtet werden kann.

Indem der Kongress auf den Geist der Solida r i tä t unter den Arbeitern aller Länder zählt, hofft er, dass ihre Unterstützung nicht ausbleiben wird in diesem Streik der Völker gegen den Krieg."

Diese Resolution ist unbezahlbar, wenn man an ihr die Bestrebungen der Sozialdemokratie, aber ganz besonders ihre Stellung gegenüber dem Generalstreik auf dem Amsterdamer soz. dem Internationalen Kongress1) 1904 ermisst. Die alte „marxistische" Internationale schien davon nichts zu wissen, dass die „allgemeine" — nur ein Gedankenloser kann dieses Wort im abstrakt absoluten Sinne auffassen —

Einstellung der Arbeit „unmöglich" und schädlich für---den

Arbeiter sei... Die Armen! Sie kannten wohl noch nicht die herrlichen Erfolge und Errungenschaften, welche eine fünfundreissig-jährige, „praktische" Parlamentstätigkeit der deutschen sozialdemc-/

■kritischen Reichs'agsfraktion für Deutschland s Arbeiterklasse erzielen •würde.---

Sicher ist eins: die Internationale trug die Keime und Elemente des Generalstreiks in sich. Ganz klar wurde ihr während ihrer heilsamen Exietenzperiode diese Tatsache selbst nur in geringem Massstabe, doch ihr Organisationsbau und die von diesem ausgehende •ökonomische Aktion licssen den Generalstreik als eine Selbstverständlichkeit aus ihr hervorgehen. Sie war so recht ein Organisationskomitee. das international organisiert war, um im Falle eines grösseren Streiks in einem Lande die Zufuhr von Arbeitskräften «nach demselben zu hintertreiben, einen Druck auf das Land, in dem der Streik tobte, von auswärts und von innen auszuüben. Das hätte die gross »rtige, vollentwickelte Aufgabe der Internationalen werden können, hätte nicht die politischeJ Drahtzieherei ihr intrigantes Spiel begonnen und so alle scheinen Anfänge zerstört.

Oder doch nicht I Denn aus dem Kampf der bakunistischen und marxistischen Fraktion, der sich zuerst um mehr technische Organisationsfragen innerhalb der Internationalen drehte, wurde allmählich •ein Kampf um Prinzipien. Es handelte sich nachgerade darum : Sollte die Internationale das bleiben, was sie war, eine ökonomische Hilfsorganisation für das internationale Proletariat, oder aber ein herrschendes Komitee, das selbst in die autonomen, lokalen oder nationalen Verhältnisse eines Kampfes sich mengen, Befehle erteilen und Gehorsam heischen durfte. Nach und nach wurde der Kampf ein Ringen um Ideen: Die „Marxisten"2) wollten eine stramme Organisation, die 'den parlamentarischen Kampf den Proletariern aller Länder förmlich aufzwang, der man sich unterwerfen musste; die „Bakunisten" hingegen verlangten, dass die Arbeiterbewegung eines jeden Landes sich ganz im Einklang mit den bestehenden nationalen und lokalen Eigentümlichkeiten entwickeln, der Generalrat nur eine Rat erteilende Stimme haben und blos ein vermittelndes Korresfondenzbureau sein solle. Betrachtet im Lichte der Gegenwart waren diese Kämpfe sogar sehr wertvoll; es kam zu einer wünschenswerten Klarheit, die Grenzmöglichkeiten zwischen beiden Parteien wurden festgelegt, und die

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unvermeidliche Spaltung, nicht ohne dass die Marxisten eine Summe von Verleumdungssucht, Ehrabschneiderei, Niedertracht aufbrachten., die kaum für möglich gehalten werden sollte, trat endlich ein.

Um die weiteren Schicksale und d;e fernere Tätigkeit der Allianz,, also der Anhänger Bakunins, brauchen wir uns an dieser Stelle nicht zu kümmern. Es genügt, zu konstatieren, dass die sog. bakunistische Internationale ihren Weg ging; ihre Spuren >ind noch heute sichtbar in Spanien, Italien, der romanischen Schweiz, Holland etc., denn tatsächlich war sie es, die in der Folgezeit von sechs bis sieben Jathren hauptsächlich und meistenteils der Propaganda anarchistisch» aozialistischer Ideen oblag, dazu beitrug, dass dieselben in den. Volksmassen festen Fuss fassen konnten und heute das Enthusiasmusingredienz in jenen Ländern Europas bilden, in denen das Volk nicht politisch entnervt ward von den wohlfeilen Versprechungen der Politiker, sondern auf ökonomischem Felde sich individuell, wie auch als Kampfesorganisation stärkt und, soweit dies unter den. Umständen möglich, von Sieg zu Sieg eilt. Alle jene Länder, in denen die Streiks nicht blos kleine Gemütserregungen zwischen. Kapitalisten und Arbeiter bilden, die man durch gewerbliche Schiedsgerichte u. dgl. wieder sanft beilegen kann, sondern wo jeder Stre k sofort nach seinem Ausbruch einen sozialen Charakter annimmt, der dem Sozialismus zuneigt — überall dort sehen wir, wie die Erbschaft des „bakunistischen Treibens und der Bakunisten, die an der Arbeit" vorzüglich verwaltet und gebraucht wird.

Und jetzt, nach vierzig Jahren, nach fast einem halben Jahrhundert. dürfen wir auch die Bilanz der alten „Internationale" ziehen. So ist ungemein einfach : Die „Internationale" hörte auf zu leben und zu wirken, sobald sie ins politische Fahrwasser segelte. Wohl weist die internationale Sozialdemokratie auf ihre Existenz und nennt sich die Folge, das Vermächtnis der „Internationalen". Aber dies ist nur eine erbärmliche Lüge und eine Beleidigung des Andenkens der „Internationale" im Gedächtnis des Proletariats. Die Sozialdemokratie ist so weit entfernt, der „Internationale" zu ähneln, wie diese selbst nach 1872 der „Internationale" aus den Jahren 1864—70 ähnelte. Was sich heute Sozialdemokratie nennt, besitzt wohl viel von demokratischer Tirade, von Sozialismus aber rein gar nichts, ganz wie die alte Internationale nach dtn ehrgeizigen, autoritären, offenkundig zu Tage tretenden Bestrebungen Marx' nichts mehr von ihrer früheren urwüchsigen, proletarisch-ökonomischen Kraft besitzen konnte.

Aber darum ist der Gedanke der Internationalität doch erhaben,, cdal und einzig menschlich; die ihn heute noch wirklich, ohne Schein,.

•ohne Gepränge, ohne Wenn und Aber hochhalten, das sind nun die anarchistischen Sozialisten oder Anarchisten. Dieser Gedanke ist eigentlich die in die Praxis umgesetzte Theorie des Menschheitsideals. Nur die, die wirklich in seinem Sinne tätig sind, fühlen ihn, den Geiankei wahrer solidarisch-internationaler Verbrüderung. So sehen wir denn, dass die Ideen und Bestrebungen der alten Internationale sich heute abermals in den Vordergrund der Volksbestätigung rücken : Generalstreik und Antimilitarismus. Dieses Mittel und Ziel, das eine-durch das andere, tragen in ihrer weiteren Entwickelung, die sich ganz spontan eben aus ihrer Handhabung und Erstrebung ergeben wird, noch ungeahnte Idealmöglichkeiten, sind solche Mittel, dass sie, falls wirklich rationell und nachdrücklich geführt, die Umgestaltung des ganzen staatlich kapitalistischen Getriebes bewerkstelligen könnten. Und indem diese idealen Mittel wieder in den Vordergrund drängen, ist auch das Bedürfnis nach einer neuen Internationalen wachgeworden,

Sie ist bereits auferstanden seit dem Kongress in Amsterdam, den •Domela Nieuwenhuis im Jahre 1904 einberief, und der mit der Kon-stituirung eines internationalen Komitees schloss. Auch diese Internationale vereint in ihrer Mitte die verschiedensten Elemente, zusammengehalten nur durch den einen Wunsch, das wirksams e Mittel wider ein verheerendes, mörderisches Monster in Anwendung zu bringen. Gerade durch diese Varietät der Elemente, die sie umfas-»t, ist ihre Existenz und fernere Betätigung verbürgt. Wollte sie die Einzelnen oder Gruppen auf festgeformte, starr formulierte Programme einschwören, so müsste ihr heilsames Wirken sehr in Frage gestellt werden ; denn Programmformeln lähmen und hemmen. So aber lautet •die Parole nur : Alle Mittel sind richtig, die zielbeschleunigend und erfahrungsgemäss tunlich sind, und deren zwei beste sind der Generalstreik und der Antimilitarismus.

Eine neue Internationale '. Und während die Sozialdemokratie dem Sozialismus immer mehr entfremdet wird, in sich selbst zerklüftet und international nicht durch das Gefühl edlen Solidarismus und erhebender Begeisterung zusammengehalten dasteht, sondern nur durch die Sucht nach Herrschaft, die Beutegier nach der Habe und politischen Position des Gegners, ersteht allmählich eine neue Internationale. Es regt sich überall, und der Sozialismus wird immer mehr Sache der Anarchisten, die allein ihn noch in echter Reinheit und Wesenscinhe>t — Freiheit und ökonomische Gleichheit— erhalten; und nachgerade die Enzigen sind, die a.s Gegner der modernen Gesellschaft bewusst und konsequent als Revolutionäre handeln.

Vierzig Jahre sind verflossen, seit in London die alte Internationale gegründet ward, und die Hauptinitiative ging von den romanischen Ländern aus. Dieser Entwickelungsansporn in der Arbeiterbewegung wiederholt sich. Auch heute sind es Frankreich, Italien, Spanien etc., die uns Medioden gebrauchen lehren, die unbedingt notwendig, wollen wir jemals siegen. Aber es ist ein bedeutsamer Unterschied in dieser Neuauflage eines grossen Zeitpunktes. Die alte Internationale hatte neben dem kühnen Emanzipationsrufe ihrer Forderungen auch noch kleinere, unbedeutende Gegcnwarts- und Augenblicksinteressen, die sie gewahrt sehen wollte. — Dies hat sich nunmehr geändert. Die neue Internationale hat dieses Beiwerk von Unzulänglichkeiten und Wertlosigkeiten abgestreift, ihr ideales Endziel geklärt. Freilich, auch sie kämpft für Momentangelegenheiten, denn das ist der tägliche Klassenkampf. Doch sie werden alle erlangt, erkämpft, indem man sich nicht mit ihnen begnügt, bei ihnen aufhält, sondern dem wahrlich herrlichen Ziele im Sturmlaufe zustrebt, der Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus, der Anarchie, der freien Volksgemeinschaft zukünftiger Tage.

„Der freie Arbeiter

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1  Auf dein Bremer Parteitag der deutschen Sozialdemokratie 190-1 wurde ühpr den Antrag, eine antirailitärisehe Propaganda einzuleiten, ruhig zur Tagesordnung — dieselbe bestand hauptsächlich iin öden Geplapper über den doch so ureinfachen „Fall Schippel" — übergegangen. So wahrt diese Partei die Interessen des Proletariats !--

2  Bio Bezeichnungen „Marxisten" und „Bakumsten'* dürfen nicht aJlzu wörtlich genommen werden; denn im Gefolge beider Männer befanden sich nicht wenige, die mit den besonderen Idealen der Führer kaum übereinstimmten, aber sich nur durch die bestimmt aufgeworfenen Fragen über die Befugnisse des Geue-jralrats et»*, mit ihren resji. Fraktionen vereinigt fühlten.